Frau Schnitzer blüht wieder auf...

In Zeiten der Corona-Krise ist das Sterben noch einsamer geworden. Nur wenige Angehörige dürfen die Todkranken begleiten. Im Hospiz Veronika in Eningen ist das anders.

Ein Artikel von Christine Keck

Es ist die Wärme, die ihr fehlt. Was hätte sie gegeben für ein einziges Küsschen ihrer fünfjährigen Enkelin, für eine Umarmung des Sohns. „Jetzt verstehe ich, was Einzelhaft für Gefangene bedeutet“, sagt Stefania Schnitzer und hat alle Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Die Hölle seien die zwei Wochen im Pflegeheim gewesen. Wegen Corona durfte sie keinen Besuch empfangen, sie habe kaum Ansprache gehabt, alles sei neu gewesen. „Ich habe meinem Sohn auf Whatsapp geschrieben, dass er mich rausholen soll, sonst springe ich vom Balkon“, sagt sie und setzt sich aufrecht in ihrem elektrischen Liegesessel. „Ich hätte es gemacht.“

Zwischen einem Bündel Zeitschriften mit Sudoku und dem katholischen Liederbuch hat die 66-Jährige auf dem Samtpolster viel Platz. Eine Frau so zart wie eine Bleistiftlinie; links gelähmt: das Bein, ein bisschen der Arm, aber das ist mit der Krankengymnastik besser geworden. „Ich kann jetzt wieder das Handy halten“, sagt sie stolz. Stefania Schnitzer hat Hautkrebs, das Geschwür hat in den Kopf gestreut, zwei Hirnblutungen folgten. Sie weiß, dass jede Minute ihre letzte sein könnte. Sie zog vom Pflegeheim ins Hospiz Haus Veronika in Eningen bei Reutlingen, ein Dachzimmer mit Blick auf das goldene Kreuz des Kirchturms und die sanften Kurven der Schwäbischen Alb.

In Corona-Zeiten ist alles anders, auch das Sterben. Es ist einsamer geworden, noch einsamer. Kein ambulanter Hospizdienst ist mehr nach Hause oder ins Heim zu den Sterbenden gekommen, das fängt erst langsam wieder an. In Hospizen oder auf den Palliativstationen der Kliniken durfte oft nur ein Angehöriger, höchstens zwei ins Zimmer – mit Mundschutz, teils mit Schutzkleidung. Besuchszeiten wurden eingeschränkt und Kinder aus Gründen des Infektionsschutzes ausgesperrt.

Für sterbenskranke Covid-19-Infizierte in Kliniken ist es ein bitteres Abschiednehmen auf Abstand. Es sind kalte Berührungen durch den Einmalhandschuh, und der Weg in eines der 34 Hospize im Südwesten ist ihnen aus Sorge vor Ansteckung verwehrt. „Keines hat einen Covid-19-Patienten von einer Intensivstation übernommen, die blieben alle dort“, sagt Susanne Kränzle. Als Vorsitzende des Hospiz- und Palliativverbands Baden-Württemberg hat sie den Überblick, sie kennt die Probleme. Weil Schutzkleidung fehlte, seien vielerorts Betten leer gestanden, die für Sterbende gebraucht worden wären. Ein unauflösliches Dilemma sei die Sache mit den Neuaufnahmen. Die müsse man wie Verdachtsfälle behandeln, das heißt zwei Wochen Quarantäne, umgeben von Pflegenden wie Astronauten verhüllt.

Es ist Mittag im Hospiz Veronika, Zeit für Spaghetti Bolognese und Beerdigungsdetails. „Ich mag es scharf“, sagt Stefania Schnitzer und pfeffert nach. Sie hat zugenommen, seit sie vor zwei Wochen eingezogen ist, sie lässt sich gerne nachschöpfen. Der katholische Pfarrer, der zusammen mit einer evangelischen Kollegin an ihrem Grab sprechen wird, setzt sich in die Runde. Sie habe alles geplant, erzählt sie – es klingt erleichtert. Eine schlichte Urne soll es sein mit drei Rosen in Lachs oder Weiß darauf, dazu Lieder von den Flippers und Zillertaler Schürzenjägern. Ihre zwei Söhne wüssten schon Bescheid.

Stefania Schnitzer ist eine, die alles gerne in die Hand nimmt, auch den Abschied. Das gibt ihr Sicherheit. Sie ist Katholikin, in Polen aufgewachsen und mit 18 Jahren zu ihrer deutschen Großmutter nach Reutlingen gezogen. Zwei Jahrzehnte arbeitete sie bei Bosch im Reinraum, „in der Chipherstellung für Panzer, Handys, Spülmaschinen“, anfangs eine der wenigen Frauen unter den vielen Männern. Mit 58 ging sie in den Vorruhestand, wenige Jahre später wurde der Hautkrebs am rechten Bein entdeckt. „Ich dachte, das ist eine Warze“, erinnert sie sich.

Die Explosion im Kopf hat alles verändert. „Das war, als ob mir jemand Nägel reinsteckt“, „ein stechender Schmerz“, beschreibt Stefania Schnitzer jenen Moment im Januar dieses Jahres, als der Tumor ein Gefäß zum Platzen brachte. „Mir wurde schwarz vor Augen“, ihre linke Seite war gelähmt, selbst das Sprechen fiel ihr schwer. Es folgte eine Odyssee von einem Ort zum anderen. Als Notfall kam sie in die Klinik, dann zog sie für eine Woche beim jüngsten Sohn ein, nach einem weiteren Klinikaufenthalt kam sie ins Heim und dann ins Hospiz. Sie wurde operiert, um den Bluterguss im Kopf zu entfernen, sie erhielt eine Immuntherapie, mal ging es ihr besser, mal wieder schlechter.

Auf dem Balkontisch vor Stefania Schnitzers Zimmer liegen Marlboro. Eine Freundin habe die Zigaretten am Wochenende da gelassen, sie habe wieder mit dem Rauchen angefangen, warum auch nicht. Die Sterbenskranke ist froh über die Freiheiten, die ihr geblieben sind. „Hier zu sein ist wie ein Sechser im Lotto“, sagt sie und genießt den Sessel am Fenster. Sie blühe auf, könne essen, habe es geschafft, einige Schritte am Rollator zu gehen.

Was in der Klinik und im Heim strikt untersagt war, ist im Hospiz möglich: Besuch. „Wir orientieren uns nicht blind an gesetzlichen Vorgaben“, ist das Credo von Andreas Herpich, dem Leiter des Hauses und seit vielen Jahren im Palliativbereich tätig. So wird bei zwei negativen Tests auf das Coronavirus auf die zweiwöchige Quarantäne für neue Bewohner verzichtet – in Absprache mit dem Reutlinger Gesundheitsamt. „Es ist unser Ermessen, was verantwortlich ist“, sagt er und zeigt sich bei Besuchen kulant. Endlich hat Stefania Schnitzer wieder Familie und Freunde um sich. Sie hat genug von Whatsapp-Nachrichten und Videotelefonie. „Das Handy ist ein kaltes Schlüsselloch zur Welt“, sagt sie und hat sich gefreut über den Nachbarn, von dem sie es am wenigsten erwartet hätte, dass er kommt. Über die evangelische Pfarrerin, die einen Messingengel vorbeibrachte. Über den neuen Haarschnitt, den ihr eine ehrenamtliche Mitarbeiterin, die Friseurin ist, schenkte.

Nur die drei Enkel dürfen nicht rein, die Kinder könnten das ansteckende Virus einschleppen und haben weiterhin Besuchsverbot – das ist für Stefania Schnitzer schwer zu ertragen. „Ich gehöre im Hospiz zu den Privilegierten, weil ich aufstehen und am Tisch essen kann“, sagt sie. Aber wenn sie einen Wunsch frei hätte, dann würde sie Lili, Jana und Felix herholen, „ich vermisse sie so“. Sie zeigt ein Foto, auf dem sie die Blondköpfe im Arm hält, „die Fünfjährige ist ein Schlitzohr“, „Jana ist die Sensible“, und „der Neunjährige so klug“, erzählt sie und hält das Bild wie einen Schatz in der Hand. „Vielleicht können wir zusammen Weihnachten feiern“, sie hoffe durchzuhalten bis dahin. Schon zweimal sei es knapp gewesen, aber sie sei zum Sterben noch zu jung.

Es klopft an der Zimmertür, Sohn Dennis, Maschinenbautechniker und täglich in Kontakt mit seiner Mutter, schaut nach der Arbeit vorbei. Er drückt sie liebevoll, trägt Mundschutz dabei, zu erzählen gibt es immer etwas. Die beiden trinken Kaffee, er leistet ihr beim Rauchen Gesellschaft, manchmal bringt er Wäsche oder schiebt ihren Rollstuhl in den Garten. Es habe ihm zugesetzt, dass er in der Klinik und im Pflegeheim auf Corona-Abstand bleiben musste, erzählt der 41-Jährige, unmenschlich sei das gewesen.

„Es ist die schlechteste Zeit, um krank zu sein“, sagt er traurig und war entsetzt darüber, was seine Mutter über die mangelnde Pflege im Heim erzählt hat. Kaum Zuwendung, Ameisen krabbelten durchs Bett, die Einsamkeit. „Wenn du dich beschwerst, weißt du nicht, ob das zum Nachteil der Mama ist“, hat er sich überlegt und es sein lassen. Er entschied sich, die Immuntherapie zu beenden und seine Mutter im Hospiz anzumelden. Die Therapie, bei der das Immunsystem den Tumor attackieren soll, hatte Erfolge gebracht, aber womöglich auch die Hirnblutungen mitausgelöst, so genau weiß das keiner. „Vielleicht lebt sie jetzt kürzer, aber ich kann sie jeden Tag in den Arm nehmen“, sagt Dennis Schnitzer und fragt sich, welche Entscheidung wohl richtig ist und welche falsch. Am Wochenende will er seine Mutter zum Pizzabacken mit der ganzen Familie nach Hause holen, ein paar Stunden Glück.

„Das Rauchen aufgeben – für ihre Lieben weiterleben“, steht auf der Marlboro-Schachtel, aus der sich Stefania Schnitzer ihre vierte Zigarette an diesem Tisch herausfischt. Als ob sie die Wahl hätte. Sie raucht, weil es ihr schmeckt. Die erste hat sie am Vormittag mit dem Pfarrer gepafft. Der sei geknickt gewesen, sagt die 66-Jährige, „keine Ahnung warum“. Sie habe ihn aufmuntern wollen.

Drei Menschen seien gestorben in den wenigen Wochen, die sie im Hospiz wohnt, auch ein älterer Herr im Zimmer nebenan. Stefan Braun sei bei ihm gewesen, ein Krankenpfleger, einer, der so viel Wärme ausstrahle. „Ich habe ihn gefragt, ob er auch zu mir kommt, wenn es so weit ist.“ Sie würde es beruhigen, ihn neben sich zu wissen. Stefan Braun hat zugesagt.

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